Zahmer Hirsch und wilde Sau

Hunderttausende Jahre lang brachten die Menschen Tiere um. Der einzige Weg, um zu überleben. Erst vor wenigen Tausend Jahren gabs eine Alternative zur Jagd, den Ackerbau. Die Tiere wurden domestiziert, landeten jedoch unweigerlich auch in der Pfanne. Mehr und mehr wurde die Jagd zum Zeitvertreib des Adels, dann zur Bestandespflege und zum Brauchtum. Wild kommt nur noch einige Wochen lang im Herbst auf den Teller. Und meistens von irgendwo her. Mein Gamsrücken, einmal im Herbst zelebriert, aus Slowenien. Ob es Gemse ist? Schmeckt jedenfalls so. Wichtiger ist etwas ganz anderes. Und das lässt sich noch viel weniger kontrollieren. Aber davon später.

 

Es gab durchaus auch schon Wild, von dem ich genau wusste, woher es kam. Mein erster Wildbret-Lieferant war Opa. Als Förster im Spessart machte er gelegentlich einen Finger krumm. Und schoss etwas. Der Höhepunkt war ein Achtender-Rothirsch in den Fünfziger Jahren. Pech hatte Opa, als er Hans erschoss. Der war aus seinem Gehege ausgebüxt und ausgerechnet Opa vor die Flinte gelaufen. Hans, der grösste Keiler des Spessarts. “Durch schnöde Jägershand” sei er umgekommen, schrieben Kollegen auf eine hölzerne Gedenktafel. Opa war ein armer Kerl. Oma hatte gar keine Freude, wenn er etwas schoss. Dann musste Opa selber kochen. Wir reden hier nicht von Rehrücken oder Schnitzeli. Für ihn blieb nur der Aufbruch. Herz, Milz, Nieren, Lunge und Leber. Das alles kochte er zusammen. Ich fands als kleiner Bub geil. Mal was ganz anderes.

 


Hirsch

Bild: Rothirsch

 

Herbert, einer von Opas Söhnen, wurde auch Förster und – Jäger. In den siebziger Jahren nahm er mich manchmal mit auf den Hochsitz. Den ganzen Abend sassen wir schweigend im Wald, hoch oben über einer Lichtung. Um nichts zu sehen. Und als Kettenraucher gabs unerbittlich Tabak-Diät, stundenlang. Wenn die Sauen kamen, dann spät. Sie wussten genau, das Büchsenlicht ist alle, der da oben schiesst nicht mehr. Einmal hatte sich die Sau verrechnet. Herbert schoss doch noch, und die Sau blieb liegen. Ich half beim Ausweiden. Es machte mir nichts, all die Därme und eben – der Aufbruch. Zu essen bekam ich ihn damals nicht. Es gab eine lange Jagdpause. Onkel Herbert erzählte ab und an Skurriles aus seinem Revier. Einmal habe er vom Hochsitz aus eine Wildsau erlegt. Drunten sah er unter der toten Sau eine zweite, ebenso tote. Die Kugel war durch die grössere Sau gedrungen und hatte die kleinere, dahinterstehende und nicht sichtbare auch dahin gerafft. Die Freude hielt sich in Grenzen. Eine Sau nachts allein auszuweiden ist schon ein hartes Stück Arbeit. Da brauchst du keine zweite.

 

Dann kam Kurt. Ein Waldmensch, ein archaischer Typ, er hätte in der Steinzeit überlebt. Büchsenmacher mit einem Waffengeschäft, und – Jäger aus Leidenschaft. Er lud mich ein, als Treiber. An einem saukalten Novembertag kämpfte ich mich stundenlang durchs Unterholz. Abends war meine alte Jeans von den Brombeerranken zerfetzt. Ein Reh hatte ich ganz flüchtig gesehen, später dann vier tot. Der Aser mittags hatte mir gepasst, der Rest weniger. Ich wollte nicht Jäger werden. Mich interessierte mehr, was die Jagd hergab. Kurt war mir dabei eine echte Hilfe.

 

Denn nun kamen die Sauen. Plötzlich zerpflügten ganze Rotten Wildschweine die Maisfelder am Fuss des Juras. Das Schwarzwild war unversehens zu einer Landplage geworden, die Jäger standen um die Jahrtausendwende vor einer ganz neuen Herausforderung. Vor allem: Sie kannten sich mit den schlauen Sauen nicht aus. Beispielsweise wurden alle Aargauer Weidmänner für ein ganzes Wochenende zusammengezogen – Schuss frei nur auf Schwarzwild. Das Resultat war erbärmlich: Eine tote Sau, Dutzende von Grünröcken hatten nicht einmal eine gesehen. Aber es gab sie. In Mengen. Kurt wusste davon. Er beobachte seine Keiler, Bachen, Überläufer und Frischlinge. Abend für Abend, nächtelang. Zwischen- durch schoss er eine. Er wurde zum Wildsau-Spezialisten. Einmal zog er sogar einen kleinen Frischling auf. Bis Rosa Nachwuchs hatte. Und Kurt den Landschaden in seiner Hostett. Da gab er alle weg. Doch eines Tages ging mein Wusch in Erfüllung: Kurt hatte eine passende Sau erlegt, eine für mich. Und meine Pläne.

 

Da hing es, im Kühlraum des Restaurants Post in Riedholz. Ein Überläuferli, rund 25 Kilo schwer, ohne Kopf und ohne Decke. Kurt half mir noch, es in die ganz grossen Teile zu zerlegen. Zwei Hinter-, zwei Vorderschinken, der Rücken, der Bauch. Dann war ich ganz allein, mit meinem wilden Schwein. Ich säbelte – Metzgersmesser sei Dank – den ganzen Vormittag herum, packte Ragout ab und Schnitzel aus dem einen Schinken. Eine Saubüez, alles tat mir weh. Den Rücken stellte ich zugedeckt auf den Fenstersims, das Wetter war ideal. Drei, vier Grad nachts, tagsüber vielleicht fünf. Fleischreif-Wetter eben. Jeden Tag beschnüffelte ich den Rücken. Nach vier Tagen, ein Hauch von Geruch. Sofort marinieren, und eiskalt noch zwei Tage draussen lassen. Er war himmlisch. Am Stück geschmort im Ofen, sind wir uns heute noch einig: Ein besseres Stück Fleisch als diesen Wildsaurücken hatten wir noch nie gegessen.

 

Wildschweine

Bild: Wildschweine

 

Ja, und da war noch der eine Hinterschinken. Ein Stück zum Experimentieren. Unser Quartiermetzger zeigte wenig Freude über meine Absichten. “Das wird nichts”. Schliesslich liess er sich doch herbei, und verpasste dem Schinken einen Abrieb mit Pökelsalz. Was der brave Metzgermeister nicht wusste: Es gab da noch jemanden. Eine alte Dame. Die besuchte ich im Bucheggberg. Sie ist eine Meisterin im Räuchern von Speck. Der beste: Moore-Späck. Den gab es nur selten. Irgendwo hatte ich gehört, sie habe früher für die Bauern noch Hundehammli in den Kamin gehängt. Das klang vertrauenswürdig. So hing mein Wildsauschinken sieben Wochen lang eben dort. Und dann noch einige Wochen im winterkühlen Holzestrich bei uns zuhause. Bis der Schinken nur noch ein Knochen war. Wir haben ihn, soweit ich mich erinnere, alleine verputzt. Das heisst, Christine, Daniel und ich. Wäre wirklich schade gewesen, davon etwas abzugeben.

 

Irgendwann, Jahre später, durfte ich im Spessart an einer Treibjagd teilnehmen. Ich wurde mitten im Wald auf den Anstand geschickt. Und tatsächlich, plötzlich zottelte eine Wildsau direkt auf uns Jäger zu. Wir waren am Boden, nicht auf dem Hochsitz. Schon sehr speziell, wenn so ein borstiger Kerl direkt auf dich zuläuft. Natürlich kam sie nicht ungeschoren durch die Postenkette der Weidmänner. Die Sau war auch nach zwei Schüssen nicht tot, sie machte sich noch davon. Nicht weit. Eine halbe Stunde später hatten wir sie. Dann lag sie bei mindestens 20 anderen, die an diesem Nachmittag erlegt worden waren. Im Spessart ist das Schwarzwild kaum mehr in den Griff zu bekommen. In der Lokalpresse las ich von einer Jagdpartie in der Nähe von Würzburg, die eine Strecke von über 70 Sauen in einem Nachmittag brachte. Und zwar in den Rebbergen über dem Main.

 

Die halbe Stunde, bis die besagte Wildsau ganz tot war, die sollte mich noch beschäftigen. Anderntags machte ich einen Abstecher in die Lichtenau. Ein Waldgasthof, mitten im Spessart, bekannt auch, weil die holländische Königsfamilie dort bei Jagden einkehrt. Sogar im Fernsehen war die Küche der Lichtenau schon gross herausgekommen. Nicht wegen der ebenfalls vorzüglichen Forellen, nein, es ging ums Zelebrieren des Wildschweinrückens. Nun, im Speisesaal traf ich gerade auf den Wirt. Dem erzählte ich von der gestrigen Jagd unweit seines Gasthofes. Kurzversion, keine Silbe von der halben Stunde der halbtoten Sau. Seine Reaktion war knapp und verblüffend: “Ich nehme nie Fleisch von der hiesigen Jagd.” Aha. “Ich habe drei Vertrauensjäger zur Hand. Die müssen mir garantieren, dass sie nur Wild liefern, das mit einem Blattschuss erlegt worden ist und keinen Stress mehr kannte.” Ich dachte an die halbe Stunde von gestern. Das Fleisch der Sau war bei Herberts Jägerschaft geblieben – diese vermarktet es selber. Ich hätte es auch gar nicht mehr gewollt.

 

Jahre später war jedoch Kurt erneut mein Wild-Lieferant. Kurt hatte ein Problem: Seine Herde Rotwild musste weg von der bisherigen Weide, der Eigentümer brauchte das Land anderweitig. Kurt beschloss, die Herde zu verkleinern. Unser Solothurner Bierbrauer Alex Künzle – auch er hätte in der Steinzeit überlebt – machte sofort mit. Und so holten wir eines schönen Morgens unseren Hirsch ab. Schön zerlegt, ursprünglich 35 Kilo schwer. Gab jedem zwölf Kilo bestes Wild, vom Schnitzel über das Filet bis zum sehr schmackhaften Hackfleisch. Wir haben den Deal mit Kurt nie bereut. Er schoss das Tier auf der Weide, und es kam nicht mehr dazu, auch nur eine Sekunde daran zu denken, was der Knall für seine Zukunft bedeuten könnte. Und so denke ich oft bei meinem Gamsrücken: Nicht Slowenien ist das Problem. Aber was ist dort passiert, ehe die Gemse ihr Leben ausgehaucht hat? Ein zäher Rücken muss nicht ein alter sein. Kann aber einer sein, der zuletzt noch gelitten hat. Seltsame Gedanken – aber wir sind eben nicht mehr in der Steinzeit.